Seit OpenAI im November 2022 ChatGPT der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, ist ein regelrechter Hype um KI-Tools entstanden. Auf der einen Seite gibt es begeisterte Lobeshymnen über die Fähigkeiten von ChatGPT, auf der anderen Seite wirft diese Technologie auch kritische Fragen auf. Im Interview mit Prof. Dr. Claudia Heß werfen wir einen Blick hinter den aktuellen Hype um Generative AI und erkunden praktische Anwendungsszenarien.

Marcel Gräßle, Geschäftsführer bei acterience, war mit Prof. Dr. Claudia Heß, Professorin für Digitale Transformation, Beraterin & Coach, zum Thema “Generative AI” im Gespräch.

Interview

Frau Prof. Dr. Heß, KI, AI, Gen AI ist momentan ja in aller Munde. Können Sie zur Begriffsklärung und Abgrenzung erläutern, wie die Begrifflichkeiten einzuordnen sind?

Prof. Dr. Claudia Heß: Fangen wir mit den Abkürzungen an: AI steht für Artificial Intelligence und KI ist die deutsche Übersetzung Künstliche Intelligenz. Der Begriff wurde 1956 geprägt und seitdem haben sich verschiedene Bereiche innerhalb der Künstlichen Intelligenz entwickelt, wie das Maschinelle Lernen oder die Wissensrepräsentation. Innerhalb des Maschinellen Lernens gibt es wiederum verschiedene Ansätze, wie z.B. Deep Learning. Darunter fällt das Thema der generativen künstlichen Intelligenz. Deren Ziel ist es, neuartige Inhalte zu kreieren, also Bilder, Texte, Audio, Videos.

Das KI-Tool, das vermutlich die meisten kennen und das in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit erhalten hat ist ChatGPT. Erst vor wenigen Tagen stellte OpenAI das Text-to-Video Tool Sora vor. Ist alles, was da gerade passiert, nur ein großer Hype oder glauben Sie, dass wir durch diese Entwicklungen wirklich eine Transformation der Gesellschaft und unserer Arbeitsweisen sehen werden?

Prof. Dr. Claudia Heß: Tools wie ChatGPT haben jetzt schon unsere Arbeitsweisen extrem verändert. Es ist auch nicht so, dass es generative AI erst seit November 2022 gibt, also seitdem OpenAI ChatGPT der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Die Entwicklung von generative AI hat ja schon sehr viel früher begonnen. Der Hype in der breiten Bevölkerung wurde jetzt dadurch ausgelöst, dass OpenAI die Entscheidung getroffen hat, das Produkt öffentlich zu machen. Jeder kann es nutzen, jeder kann es ausprobieren. Damit ist es natürlich nicht nur im Kreis derer bekannt, die sich mit KI beschäftigen, sondern zu Jedem und Jeder durchgedrungen.

Das bedeutet, im geschäftlichen Kontext wird generative AI also auch schon sehr viel länger genutzt, zumindest in einzelnen Bereichen.

Prof. Dr. Claudia Heß: KI an sich wird im geschäftlichen Bereich schon länger verwendet. Und aktuell werden für generative KI viele Anwendungsszenarien ausprobieret. Es gab auch vor ChatGPT schon andere Tools, die uns unterstützt haben. Zum Beispiel, um Marketingbeiträge zu schreiben. Meine Kollegin Prof. Dr. Sibylle Kunz und ich hatten in unserem Podcast „knowIT“ bereits im Frühjahr 2022 eine Folge zu KI-Sprachmodellen, in der wir solche Tools besprochen haben. Das war noch ein Stück, bevor ChatGPT in aller Munde war und da hatten wir auch schon die Diskussion, ob die KI zukünftig Kinderbücher schreiben wird.

In einigen Bereichen, zum Beispiel im Marketing, scheint ein großer Nutzen dieser Tools aktuell darin zu liegen, bei der Erstellung von Texten, zum Beispiel für Social Media, zu unterstützen.

Prof. Dr. Claudia Heß: Es ist natürlich ein Anwendungsbereich, in dem man sofort Ergebnisse erhält und keine große Einarbeitung benötigt, da reichen relativ einfache Prompts*. Aber dadurch hören sich natürlich auch viele Beiträge ähnlich an, sind von der Sprache recht stereotypisch und wenig individuell. Das fällt gerade bei Social Media Beiträgen recht deutlich auf.

*Unter „Prompts“ versteht man natürlichsprachliche Anweisungen, die verwendet werden, um generative Modelle wie Sprachmodelle oder Bildgeneratoren zu steuern, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen. Prompts sind ähnlich eines Briefings: Sie dienen dazu, dem Modell eine Richtung oder einen Kontext für die Generierung von Inhalten zu geben.

Auch im Bereich „Daten und Datenanalyse“ helfen KI-Tools inzwischen bei unterschiedlichen Themen. Wird erwartet, dass sich auch hier in den nächsten Jahren noch sehr viele weitere Funktionen und Einsatzmöglichkeiten entwickeln werden?

Die Algorithmen des Maschinellen Lernens existieren schon lange und werden heute auch in vielen Bereichen genutzt, sei es in Marketing und Vertrieb zur Untersuchung von Kundengruppen, zur Analyse von Customer Journeys. Auch im Finanzbereich wird KI ebenfalls schon lange eingesetzt.


Zum Beispiel werden Vorhersagemodelle genutzt, um auf Basis einer Analyse des bisherigen Kundenverhaltens Vorhersagen zu treffen, wie sich Kundinnen und Kunden in der Zukunft entscheiden werden, beispielsweise um diejenigen zu identifizieren, die potenziell ihr Abo kündigen.

Grundsätzlich muss man aber auch hinterfragen, wo denn tatsächlich KI drinsteckt. Denn es wird gerade jetzt, wo KI „in“ ist, natürlich auf viele Digitalisierungslösungen das Label „KI“ geklebt.

Der Hype um KI und ChatGPT hat auch Diskussionen und Ängste ausgelöst, ob KI uns Menschen im Arbeitsalltag ersetzen wird. Über einige Einsatzbereiche von KI haben wir bereits gesprochen. Für welche Bereiche oder Tätigkeitsfelder wird gegenwärtig angenommen, dass sie in absehbarer Zukunft nur schwer oder überhaupt nicht durch künstliche Intelligenz substituiert werden können?

Prof. Dr. Claudia Heß: Ich glaube, es stehen sehr viele Jobs auf dem Prüfstand oder werden in der nächsten Zeit auf dem Prüfstand stehen. Lange Zeit war Kreativität die Domäne, bei der man davon ausgegangen ist, dass die Menschen der KI überlegen sind. Das wird jetzt in Frage gestellt mit den Ergebnissen, die generative KI heute bereits erstellt bzw. in Zukunft erstellen wird, insbesondere wenn wir an Videos oder Bilder denken.


Was nicht ganz so einfach zu ersetzen sein wird ist Empathie, der zwischenmenschliche Kontakt, dass wir uns in andere hineinversetzen können, mitfühlen können. Das zeichnet uns als Menschen aus.

Wobei es auch hier bereits Studien gibt, bei denen Patient:innen die schriftlichen Diagnosen und Antworten von Ärzt:innen und die einer KI bewertet haben, bei der die KI zum Teil empathischer wahrgenommen wurde. Aber das ist natürlich ein anderer Fall, wenn ich mit einem Arzt oder einer Ärztin direkt spreche, als wenn ich einen Arztbrief vor mir liegen habe. Und es kommt auf die Interaktion an. Wie geht jemand auf mich ein, wie komme ich in eine Diskussion?

Diskussion und Kommunikation sind für uns in der Beratung ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Als Projektmanager stimmen wir uns mit unseren Kunden ab, finden gemeinsam Lösungen. Wird KI irgendwann auch diese Themen übernehmen können? Wie sehen Sie das?

Prof. Dr. Claudia Heß: Manche Sachen lassen sich gut mit Hilfe von KI organisieren. Wenn es um die Zwischentöne geht, z.B. Potenzial für gemeinsame Lösungen auszuloten, da wird der Mensch vermutlich weiterhin eine Rolle spielen.


Wobei – wenn man ein Meeting aufzeichnet, die KI dann das Video analysiert, die Sprache, die Gestik, die Mimik, wer weiß, was möglich ist? Das sind Ansätze, die zum Beispiel für Bewerbungsinterviews entwickelt und zum Teil bereits genutzt werden. Das bedeutet, es werden Videointerviews geführt, die KI nach verschiedenen Kriterien analysiert und bewertet.

Wie Sie beschreiben, gibt es unterschiedliche Szenarien, in welchen KI-Tools eingesetzt werden können. Welche Tools, welche Anwendungsfälle gibt es aus Ihrer Sicht, bezogen auf den Bereich Projektmanagement?

Prof. Dr. Claudia Heß: Meine Kollegin Sibylle Kunz und ich haben hierüber bereits letztes Jahr einen Artikel geschrieben, wie man beispielsweise ChatGPT als Helfer im Projektmanagement einsetzen kann. Wir haben dafür den Best Paper Award auf der DIGITAL 2023 gewonnen und schreiben derzeit an einer erweiterten Version. Da gibt es einige Einsatzbereiche, gerade im Bereich der Produktivitätssteigerung. Wo kann ich Zeit sparen? Beispielsweise bei der Protokollierung und der Zusammenfassung von Meetings, aber auch bei kreativen Themen. In einer Case Study zeigen wir, wie Generative KI die Kernaufgaben im Stakeholder Management unterstützen kann.


Im ersten Schritt haben wir mit einem KI Chatbot im Brainstorming die Stakeholder identifiziert, im Anschluss daran exploriert, welche Meinungen die Stakeholder dem Projekt gegenüber haben könnten und auf Basis dessen Personas erstellt, um diese Stakeholder greifbar zu machen.

Ein KI Chatbot kann natürlich auch auf methodischer Ebene unterstützen. Wenn wir bei dem Beispiel des Stakeholder Managements bleiben – hier kann man mit dem Chatbot diskutieren, wie man eine Stakeholder Matrix aufbaut oder sich die verschiedenen Dimensionen erklären lassen. Ebenso lassen sich mit dem KI Chatbot die Stakeholder anhand dieser Dimensionen klassifizieren. Das geht für verschiedene Kombinationen auch recht schnell und so hat man eine erste Diskussionsgrundlage.


Natürlich muss man die Ergebnisse noch einmal prüfen und überlegen, ob es bestimmte Rahmenbedingungen gibt, die noch mitberücksichtigt werden sollten.

Ein anderer Anwendungsfall ist, den Chatbot als Sparringspartner zu nutzen. Der Chatbot agiert dann beispielsweise in der Rolle einer meiner Stakeholder, ich stelle ihm ein Thema vor, gebe ihm einige Bedenken mit und bitte ihn, das Thema kritisch zu hinterfragen. So kann man schwierige Situationen vorab trainieren.

Und da wären wir dann auch wieder bei der Frage von vorhin, in welchen Bereichen uns die KI nicht ersetzen kann – wir können mit ihr trainieren, aber die Situation mit dem schwierigen Stakeholder, der eigentlich gar nichts von dem Projekt hält, die müssen wir selbst meistern.

Im Bezug auf die Ergebnisse, die beispielsweise ChatGPT liefert, wird immer wieder auch von „Halluzinationen“ berichtet, dass Dinge teils erfunden oder nicht korrekt wiedergegeben werden. Wie geht man damit um?

Prof. Dr. Claudia Heß: Die Funktionsweise einer generativen KI ist ja, zu ermitteln, welches Wort am wahrscheinlichsten auf den bisherigen Text folgt. Das Ergebnis passt somit mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu den Trainingsdaten. Somit kann auch Blödsinn rauskommen. Und das Gefährliche ist, dass das oftmals Blödsinn ist, der sich sehr plausibel anhört. Man muss also auf jeden Fall alle Ergebnisse kritisch hinterfragen und nochmal gegenlesen, was die KI ausgegeben hat.

Macht es dennoch Sinn, über die Nutzung von KI-Tools im Businesskontext nachzudenken?

Prof. Dr. Claudia Heß: Wir sind derzeit in einer Phase, wo sehr viel ausprobiert wird. Und es gibt diese großen Versprechen der Produktivitätssteigerung. Aber das muss sich jetzt eben erstmal zeigen: wo findet diese Produktivitätssteigerung denn tatsächlich statt, was sind die Business Cases dahinter?


Selbst wenn sich ein Case erst einmal nicht rechnet, sollte man Generative KI trotzdem auf dem Radar haben. Das ganze Thema entwickelt sich rasant. Nur weil man bisher vielleicht noch keine guten Erfahrungen für einen bestimmten Anwendungsfall gemacht hat, sollte man nicht schlussfolgern, dass das auch weiterhin so gilt. Das wäre viel zu kurz gegriffen. Dafür ist die Entwicklung viel zu schnell.

Im Ergebnis sollte man sich also auf jeden Fall mit generativer KI beschäftigen, aber eben auch hinterfragen, was die passenden Einsatzfelder sind.

Prof. Dr. Claudia Heß ist Professorin für Digitale Transformation an der IU Internationalen Hochschule. Zusätzlich zu ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit unterstützt sie als Beraterin, Trainerin und Coach Unternehmen in der digitalen Transformation, insbesondere unter Einsatz von Technologien der Künstlichen Intelligenz, Data Science und IoT. In enger Zusammenarbeit mit Fachabteilungen, IT und Digital Labs arbeitet sie an der Digitalisierung von Geschäftsprozessen und begleitet Teams bei der agilen Entwicklung neuer, digitaler Produkte und Services. Ein Herzensthema ist, Mädchen und Frauen zu ermutigen, ein Studium oder einen Beruf im Bereich der Informatik zu wählen und sie auf diesem Weg zu unterstützen.

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