Das Autofahren wird sich verändern: Fahrer werden zu Mitfahrern, während sich das Auto selbstständig seinen Weg durch den Verkehr bahnt – so die Vision der Fahrzeughersteller und High-Tech-Player auf dem Markt. Bereits heute können Fahrzeuge eigenständig einparken oder übernehmen im stockenden Verkehr das Bremsen, Beschleunigen und Lenken. Bis das Auto den Menschen komplett ersetzen wird, ist es noch ein weiter Weg. Auf dem digitalen Testfeld A9 werden die hierfür erforderlichen Systeme jedoch bereits heute erprobt.

Markus Pollinger, Geschäftsführer bei acterience management partners und zuständig für das Geschäftsfeld Mobility, war mit Herrn Dr. Thomas Linder, stellvertretender Abteilungsleiter a.D. im Bayerischen Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr und Herrn Andreas Forstmeier, Sales Representative für Intelligent Traffic Systems bei der Siemens Mobility GmbH, zum Thema “autonomes Fahren” im Gespräch.

Interview

Unter der Bezeichnung „Digitales Testfeld Autobahn“ können seit September 2015 auf der Bundesautobahn A9 Innovationen in einem idealtypischen Umfeld und unter Realbedingungen erprobt, bewertet und weiterentwickelt werden. Das Testfeld bietet eine außergewöhnliche Infrastruktur: Highspeed-Mobilfunk nahe 5G ermöglicht eine schnelle Datenübertragung, so dass Daten zu Verkehrsfluss, Verkehrsdichte, Geschwindigkeit und Fahrverhalten mittels innovativer Sensorik in Echtzeit erfasst werden können. Während die Grundvoraussetzungen für autonom fahrende Fahrzeuge auf der Bundesautobahn A9 geschaffen werden, hat die Siemens Mobility GmbH im vergangenen Jahr den ersten autonomen Shuttlebus in Hamburg getestet. Ziel des Projektes ist es, den autonom fahrenden Shuttlebus langfristig in den regulären Straßen-, bzw. den öffentlichen Nahverkehr, zu integrieren.

Herr Dr. Linder, was sind die übergreifenden Ziele des digitalen Testfelds auf der Autobahn A9?

Dr. Thomas Linder: Zum einen will man eine effiziente Verkehrsabwicklung, die in erster Linie dann gelingt, wenn der Verkehrsablauf harmonisch ist, erreichen. Darüber hinaus soll die Verkehrssicherheit verbessert werden, indem der Mensch als Fehlerquelle ausgeschaltet wird. Ein weiteres Ziel sehen wir darin, dass Deutschland, als Nation, für die die Automobilherstellung von großer Bedeutung ist, durch das digitale Testfeld A9 die Technologieführerschaft im Hinblick auf das autonome Fahren erreichen und dass der Emissionsausstoß auf Autobahnen deutlich reduziert werden kann.

Könnten Sie mir für eines der von Ihnen aufgeführten Ziele ein konkretes Beispiel nennen?

Dr. Thomas Linder: Selbstverständlich! Stichwort Falschfahrerunfälle, jene Unfälle sind in der Regel besonders schwere Unfälle mit schlimmen Folgen. Zum einen soll mithilfe des digitalen Testfelds A9 die Verkehrssicherheit für den Falschfahrer selbst erhöht werden, zum anderen soll aber auch die Sicherheit aller anderen Verkehrsteilnehmer gesteigert werden. Zur Unfallvermeidung werden Falschfahrer auf dem digitalen Testfeld A9 mithilfe von Induktionsschleifen und Radarsensoren identifiziert, woraufhin auf der Fahrbahn ein Wechselverkehrszeichen aufblinkt, welches den Falschfahrer selbst sowie sämtlich andere Verkehrsteilnehmer warnt. Darüber hinaus werden blinkende Leitpfosten genutzt, um den Falschfahrer auf die falsche Fahrtrichtung hinzuweisen.

Die von Herrn Dr. Linder genannten Systeme bilden die Grundlage für die Mobilität der Zukunft. Herr Forstmeier, welche Mobilitätstrends werden uns darüber hinaus wohl noch begleiten?

Andreas Forstmeier: Wir befinden uns momentan in einer Mobilitätsrevolution, die unter anderem auf den bereits genannten Systemen aufbaut. Darüber hinaus werden meiner Meinung nach die folgenden vier Trends diese Revolution innerhalb und auch außerhalb von Städten vorantreiben. Erstens, der Trend hin zur gemeinschaftlichen Nutzung von Fahrzeugen, gegenüber Privatbesitz und rein privater Nutzung. Zweitens, der Trend hin zum vernetzten Fahrzeug. Drittens, der Umstieg auf Elektromobilität sowie viertens der Trend hin zu autonom fahrenden Fahrzeugen. Wir – die Siemens Mobility GmbH – bewegen uns in diesen Bereichen und versuchen, die genannten Trends aufzunehmen und unsere Produkte entsprechend zu entwickeln.

Wie dürfen wir uns das konkret vorstellen? Geben Sie uns doch einen kleinen Einblick in die aktuellen Entwicklungen zum autonomen Fahren in Ihrem Haus.

Andreas Forstmeier: In Neuperlach Süd haben wir beispielsweise ein Testfeld auf unserem Campus errichtet, auf dem wir ein Förderprojekt mit der TU München ins Leben gerufen haben. Was hier getestet wird, möchte ich Ihnen kurz erklären. Ein Auto nähert sich einem geparkten Fahrzeug, hinter dem plötzlich ein Kind hervorspringt. Das Auto, bzw. der Fahrer des Autos, kann dieses Kind jedoch nicht sehen. Durch die von uns angebrachte Sensorik an der Infrastruktur erhält das Fahrzeug allerdings rechtzeitig einen Hinweis, dass sich ein Kind nähert, bremst automatisch ab, das Kind überquert die Straße und das Fahrzeug fährt weiter. Der entscheidende Vorteil hiervon ist, dass man gar nicht erst in Situationen kommt, in denen es gefährlich wird.

Das von Ihnen beschriebene Szenario führt mich zur „Ethikfrage“, die hinsichtlich autonom fahrender Fahrzeuge häufig gestellt wird. Wie verhält sich ein selbstfahrendes Fahrzeug, wenn ein Unfall nicht mehr zu verhindern ist? Soll es geradeaus weiterfahren und dabei ein älteres Ehepaar überfahren oder soll es die Spur wechseln, wobei eine Mutter mit Kinderwagen erfasst werden würde? Können Sie abschätzen, inwieweit dieses Thema bei der Entwicklung autonom fahrender Fahrzeuge eine Berücksichtigung findet?

Andreas Forstmeier: Ich kann ehrlich gesagt nicht genau abschätzen, ob und wenn ja, inwieweit in der Entwicklung autonom fahrender Fahrzeuge eine Differenzierung zwischen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen oder beispielsweise Mensch und Tier stattfindet. Die Entscheidung, wohin ein selbstfahrendes Fahrzeug fährt, wird momentan, wie der Begriff schon vermuten lässt, nur durch das Fahrzeug selbst getroffen. Die von Ihnen angesprochene Entscheidungsfindung ist die Königsdisziplin beim autonomen Fahren. Allerdings kann diese Entscheidung nicht von der Industrie getroffen werden, sondern muss vom Gesetzgeber vorgegeben werden.

Lässt sich absehen, wie weit wir zeitlich noch von einer wirklichen Marktreife des autonomen Fahrens entfernt sind? Und welches Fortbewegungsmittel wird dabei in der Breite den Anfang machen?

Andreas Forstmeier: Eine zeitliche Einordnung ist aktuell noch schwierig, ich gehe aber davon aus, dass wir autonom fahrende Fahrzeuge in der Breite zuerst auf Schienen erleben werden.

In welchen Bereichen des autonomen Fahrens ist die Industrie denn auf eine Bereitstellung der Infrastruktur von staatlicher Seite angewiesen und wo könnte dies im rein privatwirtschaftlichen Bereich erfolgen?

Andreas Forstmeier: Da die Bauämter, die sich um die Infrastruktur im Sinne von Land- und Bundesstraßen sowie auch Autobahnen kümmern, in Deutschland (noch) nicht in privater Hand sind, liegt die Verantwortung diesbezüglich beim Staat. Wir sind daher zu 100 Prozent abhängig von den einzelnen Bundesländern.

Wie verhält es sich mit der technischen Sicherheit beim autonomen Fahren? Ist ein Schutz vor externem Zugriff, bzw. Missbrauch überhaupt möglich?

Andreas Forstmeier: Ich würde das Thema Sicherheit gerne am Beispiel einer Roadside Unit¹ erklären. Softwaretechnisch müssen diesbezüglich sehr hohe Hürden genommen werden. Insbesondere bei Millionenstädten wie Berlin oder München, die über eine sogenannte kritische Infrastruktur verfügen, muss sichergestellt werden, dass an der Roadside Unit kein Eingriff durch Dritte vorgenommen werden kann. Die Roadside Unit kann bei Fehlern oder einem technischen Defekt daher nicht mehr geöffnet werden, sondern muss vollständig abmontiert, ins Werk geschickt und ausgetauscht werden. Sowohl seitens der Hardware, als auch der Software sind Manipulationen daher nahezu unmöglich.

¹ Die Roadside Unit sorgt für den Datenaustausch zwischen der Verkehrsinfrastruktur und den Fahrzeugen. Sie sammelt u.a. Daten von Detektoren und Lichtsignalanlagen und leitet diese an die Fahrzeuge weiter.

Zurück zum digitalen Testfeld A9. Wie lange dauert es, so etwas zu projektieren?

Dr. Thomas Linder: Das geht, um ehrlich zu sein, relativ schnell. Da das digitale Testfeld A9 ein Forschungsmaßstab ist, sind wir die Letzten, die sagen, dass das Projekt daran scheitert, dass wir noch nicht so weit sind oder kein Geld zur Verfügung stellen. Die Industrie gibt vor, was sie braucht, und wir liefern entsprechend. Also am Geld scheitert es in der Regel nicht.

Herr Dr. Linder, Sie haben im Rahmen Ihres Vortrags auch Zahlen genannt. Etwa 2 Milliarden Euro Investitionen von Seiten des Bundes und rund 500 Millionen Euro von Seite des Freistaats Bayern flossen im Jahr 2019 in den Straßenbau. Wieviel davon entfiel denn tatsächlich auf das digitale Testfeld A9?

Dr. Thomas Linder: Das ist aktuell noch ein verschwindend geringer Anteil.

Ist denn damit zu rechnen, dass aufgrund der steigenden Bedeutung der Digitalisierung in absehbarer Zeit auch deutlich höhere Gelder in Projekte wie das digitale Testfeld A9 fließen werden?

Dr. Thomas Linder: Das wird mit Sicherheit der Fall sein. Die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung, des autonomen Fahrens sowie von künstlicher Intelligenz im Straßenverkehr sollte keinesfalls unterschätzt werden. Wir werden daher immer schauen, dass wir in diesen Themenfeldern vorne mit dabei sind und entsprechend Geld zur Verfügung stellen werden.

Auf der Bundesautobahn A9 in Bayern, eine der am meisten frequentierten Autobahnen in ganz Deutschland, wurde das digitale Testfeld A9 eingerichtet. Seine außergewöhnliche infrastrukturseitige Ausstattung macht das digitale Testfeld A9 zu einem innovativen Erprobungsraum für zukunftsweisende Systeme und Technologien.

Bleiben wir beim Thema Geld. Herr Forstmeier, Sie haben über konkrete Projekte mit autonom fahrenden Shuttle-Bussen gesprochen. Gibt es dazu bereits konkrete Geschäftsmodelle, die es z.B. Kommunen möglich machen, so etwas umzusetzen und auch zu refinanzieren.

Andreas Forstmeier: Eine Refinanzierung ist in diesem Zusammenhang nicht so einfach. Wir sehen es eher so, dass autonom fahrende Busse zukünftig einen Fahrer ablösen werden. Und so komisch es klingt, momentan gibt es einfach nicht mehr so viele Busfahrer. Es wird sich daher nicht nur die Frage stellen, ob selbstfahrende Busse billiger sind, sondern zum Beispiel auch, ob eine herkömmliche Busflotte überhaupt noch betrieben werden kann.

Wie sind denn Ihre bisherigen Erfahrungen, was die Akzeptanz und das Nutzungsverhalten der Fahrgäste autonom fahrender Busse angeht?

Andreas Forstmeier: Selbstfahrende Busse werden von der Bevölkerung sehr gut angenommen. In Hamburg bilden sich häufig sogar relativ lange Schlangen, da die Fahrt mit einem autonom fahrenden Bus für viele Personen ein außergewöhnliches Erlebnis darstellt.

Herr Dr. Linder, apropos Hamburg, gibt es denn in anderen Bundesländern vergleichbare Projekte wie das digitale Testfeld A9 hier in Bayern?

Dr. Thomas Linder: In Deutschland haben wir bundesländerübergreifend einige vergleichbare Projekte zum digitalen Testfeld A9. Für das Bundesverkehrsministerium ist es momentan sogar relativ schwierig, einen Überblick darüber zu behalten, was auf welcher Autobahn getestet wird. Unter den 16 Bundesländern sind neben Bayern vor allem Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Hessen auf diesem Sektor forschungsmäßig besonders gut aufgestellt. Das liegt unter anderem auch an entsprechenden Kooperationen mit Hochschulen und Universitäten.

Gibt es darüber hinaus auch international vergleichbare Projekte zum digitalen Testfeld A9 und wenn ja, findet hier ein aktiver Austausch statt?

Dr. Thomas Linder: Die gibt es durchaus! Beispielsweise das Projekt URSA MAJOR², das sich mit der Verbesserung der Services für den Frachtverkehr auf europäischen Straßen befasst. Ein Austausch zwischen diesen Projekten findet in der Regel bilateral statt.

² Das Projekt URSA MAJOR setzt die Entwicklung von ITS-Diensten zur Verbesserung des Güterverkehrs auf dem transeuropäischen Straßennetz fort, indem es die Nordseehäfen, die Häfen vom Rheinland und vom Ruhrgebiet, die Metropolregionen Süddeutschlands und Norditaliens mit Mittelmeerhäfen bis nach Sizilien verbindet.

An dieser Stelle möchte ich mich bei Ihnen beiden für die spannenden Einblicke bedanken. Eine Frage noch zum Abschluss: Gibt es Einschränkungen, welche Automobilhersteller das digitale Testfeld A9 nutzen dürfen?

Dr. Thomas Linder: Das digitale Testfeld auf der Autobahn A9 ist nicht beschränkt, sondern grundsätzlich für alle Automobilhersteller offen. Wer eine der Technologien testen möchte, kann dies jederzeit gerne tun.

Ihr Ansprechpartner

Weiter zu unseren Beratungsleistungen im Bereich Mobility:

© Photos: Titel: Mike Mareen/stock.adobe.com; Content-Image: Karneg/stock.adobe.com; Portrait: Johanna Lohr